Leseprobe

Band 1

Roter Einschnitt
Hardcover des Fantasyromans Blut gegen Blut

Kapitel 1

„3, 2, 1. Los!“, rief der Arbeiter. Katrina machte einen gewaltigen Satz, legte einen guten Start hin und packte das Seil. Sie überkreuzte die Füße und zog sich stückweise nach oben in Richtung Zeppelinballon. Ein kurzer Blick auf die gegenüberliegende Seite verriet ihr, dass Theobald und Gwendolyn auf gleicher Höhe waren. Ebenso wie ihre anderen Arbeitskollegen hatten sie solch einen Auftrag nicht zum ersten Mal.
„Ich habe eine Wette laufen, dass mindestens einer von euch das Pendel machen wird!“, plärrte der Arbeiter vom Deck des Luftschiffes nach oben, aus dessen Stimme man sein dreckiges Grinsen heraushören konnte.
Kurz nach der Mittagspause landete der Perko am Ufer vor der Werkstatt, und der Kapitän gab eine Komplettbehandlung in Auftrag. Es war jedes Mal ein kleiner Wettkampf, wer es zuerst nach oben schaffte, und eine enorme Herausforderung, sich dort auch halten zu können. Ebenso wenig zu verachten war die Tatsache, dass sie ohne jegliche Sicherung auskommen mussten.
Als Katrina die riesige Hülle erreichte, griff sie nach einer Masche des groben Netzes, das aus zusammengeknüpften Seilen rings um den gesamten Ballon gespannt war. Bei jedem Handgriff hörte man deutlich das Knarzen der Fasern, das bald von dem immer heftiger werdenden Wind übertönt wurde, je höher sie sich emporzog. Zunächst musste sie sich mit den Händen nach oben ziehen, woraufhin die Muskeln in ihren Armen immer heftiger brannten. Zu alledem schien der Wischmob, den sie sich auf den Rücken geschnallt hatte, immer schwerer zu werden. Ein paar Meter weiter oben schob sie erleichtert ihre Schuhe in die Maschen und konzentrierte sich nach einem schwindelerregenden Blick nach unten schnell wieder auf ihr Ziel. Masche für Masche ließ sie unter sich, und ihre Muskeln schmerzten immer mehr.
„Erster!“, hörte sie über sich, als sie gerade die Mitte des Ballons unter sich gelassen hatte. Es klang nach Theobald. Katrina biss die Zähne zusammen und erklomm die letzten Meter, die mit der Enttäuschung im Hinterkopf noch schwerer zu bewältigen waren.
„Ich freue mich auf das Mittagessen morgen“, sagte Theobald und reckte seinen Wischmob triumphierend in die Höhe. Dann kam er Katrina gebeugt und mit vorsichtigen Schritten entgegen und reichte ihr eine Hand.
„Weg da, ich kann das!“, fauchte sie außer Atem, kletterte gebückt weiter und fand kurz darauf einen festen Stand.
„Bist du noch schlechter im Verlieren als im Klettern?“, fragte Theobald.
Katrina schnaufte und grinste ihn an.
„Das erinnert mich an deine letzte Schweißnaht“, erwiderte sie und rang nach Luft. „Poren so groß wie Schraubenköpfe.“
„Ja, sehr witzig!“, sagte Theobald und bückte sich, um einen Sicherheitsgurt aus der Halterung der Seilmaschen zu lösen und ihn sich um die Hüfte zu schnallen. Katrina zog ächzend den Mob vom Rücken, stützte sich mit einem Arm darauf ab und genoss den kühlen Wind und die Aussicht.
Auf dem riesigen See, an dessen Rand sie sich befanden, spiegelte sich das grelle Licht der beiden Monde, die genau über ihnen standen. Die kräuselnden Wellen lenkten den Blick in die Ferne, wo der Rauch der Fahrzeugfabriken von Hofstein in unterschiedlichen Grau- und Brauntönen aus den Schloten in die Luft stieg. Der Wind drängte die zähe Masse an die graue Felswand des Silbergebirges, das links der Stadt lag und zugleich die Grenze zum dunklen Land darstellte und davor schützte. Unterhalb der Berge konnte man die Walldörfer sehen. Katrina kniff die Augen zusammen und versuchte, das Dach ihres Hauses zu erkennen, aber die riesige Schutzmauer vor der Stadt verdeckte die Sicht.
Gerne hätte sie hier oben einmal tief durchgeatmet, aber das war nicht möglich, denn sie spürte in ihrem Brustkorb einen Druck, der sie scheinbar nicht mehr verlassen wollte. Es fühlte sich an, als würde sie immerzu die Luft anhalten, dabei atmete sie ganz normal. Seit wann das so war, wusste sie nicht, die Ursache dafür kannte sie hingegen ganz genau.
„Vergiss den Gurt nicht!“, rief Theobald. Katrina schaute an sich herab und stellte fest, dass sie noch nicht abgesichert war.
Schweigend bückte sie sich, strich sich die schwarzen Haare, die durch den Wind herumgewirbelt wurden, hinter die Ohren und schnallte sich den Sicherungsgurt um.
„Ist Hendrik noch sauer auf dich?“, erkundigte sich Theobald.
„Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Ich habe ihm gestern gesagt, dass ich keine Zeit habe. Wenn Oswald es nicht für nötig hält, weitere Schweißer einzustellen, bleibt nun mal Arbeit liegen!“
„Ich habe gehört, dass er heute Morgen einen ordentlichen Rüffel bekommen hat. Meinte zumindest Gwendolyn, die die Raserei in der Garage neben Oswalds Büro mitbekommen hat.“
„Ihr zwei … Wie macht ihr das nur?“, erklang eine Stimme von unten. Kurz darauf erschien Gwendolyn, die sich schnaubend Stück für Stück an der Seite des Ballons nach oben zog. Ihre blonden Haare flogen umher, sodass man ihr Gesicht kaum sehen konnte. Theobald half ihr auf dem letzten Meter, und oben angekommen richtete sie sich mit wirrem Haar auf, zog den Sicherheitsgurt aus dem Maschennetz um ihre Hüften und nahm dann den dicken Schlauch vom Rücken, der über den Ballon nach unten führte.
„Dieses Ding gibt dir das Gefühl, du würdest das Doppelte wiegen“, sagte sie und legte ihn sich auf die Schulter, bevor sie sich nach vorne gebeugt auf den Oberschenkeln abstützte, um zu Atem zu kommen. „Da bist du mal nicht in der Kleister-Mannschaft und meckerst trotzdem rum“, entgegnete Katrina und schaute zu Hendrik und den anderen beiden, die es mit ihren Eimern und Pinseln mittlerweile auch auf das andere Ende des Ballons geschafft haben.
„Macht schon! Ich will das hinter mich bringen!“, rief Hendrik mit einem deutlich gereizten Tonfall.
Gwendolyn drehte das Ventil an der Spritze auf, und ein Schwall Seifenwasser ergoss sich auf Hülle und Seile. Bald wurde der Schwall zu einem starken Strahl, den sie gleichmäßig hin und her bewegte, während sie den Ballon abging. Kurz darauf war der gesamte Ballon nass. Das Wasser floss an den Seiten herab und plätscherte auf das Deck des Schiffes oder in den See, auf dem es ankerte. Katrina und Theobald führten ihre Wischmobs über die Hülle. Der Vogelkot war an vielen Stellen so stark eingetrocknet, dass sie mehrmals darüberwischen mussten. Die anderen Arbeiter begannen sofort damit, auf die bereits gesäuberten Stellen eine frische Kleisterschicht aufzutragen. Der Gestank der zähen Masse fraß sich in die Nasen der Arbeiter. Wer eine freie Hand hatte, schob sich sein Hemd vor das Gesicht, um nicht allzu viel von den Dämpfen einatmen zu müssen. Einmal auf der Hand oder der Kleidung, konnte man diese Substanz kaum wieder entfernen. Brachte man sie auf korrekte Weise auf den Ballon auf, machte sie ihn widerstandsfähig gegen Schmutz, aber auch gegen kleinere Geschosse. Katrina war froh, dieses Mal nicht diese Drecksarbeit machen zu müssen, und bemerkte bei diesem Gedanken, dass Hendrik sie mehrmals mit seinen grimmigen, dunklen Augen anstarrte. Soll er doch sauer auf mich sein, dachte sie und konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit, was sie schon genug anstrengte. Da sie mit ihren Gedanken häufig in der Vergangenheit war, hatte sie in letzter Zeit viele Fehler gemacht. Darüber ärgerte sie sich immer wieder, denn sie konnte das Geschehene schließlich nicht rückgängig machen. Gwendolyn war fertig mit dem Bewässern, zog das Ventil des Schlauches wieder zu und schob ihn einmal durch eine der Maschen der Hülle, damit er nicht herunterfallen konnte. Mit einem Lappen und einer Tube Speziallösung aus ihrer Tasche ging sie neben Katrina auf die Knie, um die hartnäckigeren Verschmutzungen zu bearbeiten.
Die Arbeiter um Hendrik, die den Kleister Pinsel für Pinsel auftrugen, holten bald zu der Putzkolonne auf und befanden sich dicht hinter ihnen. Katrina konzentrierte sich auf eine besonders widerspenstige Stelle und schrubbte mehrmals mit dem Wischmob über die weiß-braune Kruste, die sich einfach nicht löste.
„Katrina, pass auf!“, rief Gwendolyn auf einmal. Katrina blickte auf und bekam von hinten plötzlich einen so heftigen Stoß, dass sie nach vorne fiel und über den seifigen Ballon rutschte. Sie sah noch Theobald, der versuchte, ihren Sturz aufzufangen, aber ins Leere griff. Mit den Armen rudernd und einen langgezogenen Schrei ausstoßend stürzte sie nach unten in Richtung Schiffsdeck, über dem sie dank des Sicherungsseils ruckartig stoppte. Kurz blieb ihr die Luft weg, und sie ächzte, dann hustete sie und spürte gleichzeitig einen stechenden Schmerz im Becken. Wie ein Pendel schwang sie hin und her. Wenige Meter unter ihr applaudierte der Schiffsarbeiter schadenfroh und grinste so breit, dass man selbst von so weit oben seine Zahnlücken sehen konnte. Ihre Arbeitskollegen am Kai der Werkstatt grölten und lachten. Plötzlich stürzte auch Theobald und schwang entgegengesetzt zu Katrina hin und her, was die Menge erst richtig zum Toben brachte.
Als sie beide auf gleicher Höhe waren, griff Theobald nach Katrina und drückte sie fest an sich.
„Alles okay?“, fragte er.
Katrina spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. „Ja, mir geht es gut“, flüsterte sie und richtete den Blick nach unten, bis sie beide still an den Seilen hingen.
Werkstattleiter Oswald kam auf den Kai heraus und tobte.
„Macht eure Arbeit, ihr Idioten! Helft den beiden runter, aber schnell!“, schrie er.
„Dieser Mistkerl wollte sich dort oben raufen“, erklärte Theobald. „Hat von dem Zeug natürlich nichts abbekommen, weil er auf mir gelandet ist, dieser elendige …“
Katrina drehte das Ventil auf und spritzte Theobald ein weiteres Mal mit dem Wasserschlauch ab. Sein ganzer Rücken war mit dem schwarzen Kleister bedeckt. Erst nach mehreren Durchgängen, bei denen sie es auch mit Terpentin versuchte, sah man langsam wieder seine Haut, die sich allerdings stark gerötet hatte.
„Ah, ist schon gut! Hör auf!“, verlangte Theobald, als Katrina seinen Rücken mit dem Scheuerschwamm berührte.
„Der Rest muss sich mit der Zeit von selbst lösen“, sagte er und zog ein frisches Hemd an, ohne sich abzutrocknen. Der Geruch des Kleisters zusammen mit dem des Terpentins ergab eine Mischung, die einem die Tränen in die Augen trieb.
„Heute haben wir sogar zwei Gewinner!“, rief Oswald, der gerade die Halle betrat. Die Arbeiter und Handwerker schauten von ihren Maschinen, Lastern oder Traktoren auf, an denen sie gerade herumschraubten.
„Meine lieben Kollegen, eines kann ich euch für morgen versprechen: Eure Stiefel werden blitzen wie gleißendes Licht aus den Scheinwerfern unserer glorreichen Soldaten!“
Alle applaudierten mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen, und Pfiffe schallten durch die Halle.
Oswald drehte sich um und kam ein paar Schritte auf Katrina und Theobald zu.
„Nach Feierabend antreten“, sagte er mit ernster Miene zu den beiden und marschierte weiter in Richtung Kai.
„Beim Hochklettern Erster, aber beim Runterkommen nur Zweiter! Ich würde sagen, damit haben wir Gleichstand, oder?“, meinte Katrina und klopfte Theobald auf die Schulter, der vor Schmerz zusammenzuckte und sie grimmig anschaute.

Nachdem die beiden den restlichen Arbeitstag hinter sich gebracht hatten, saßen sie im Flur der Umkleidekabinen und schrubbten Stiefel. Hendrik kam aus einer der Türen und knallte seine Schuhe vor Katrinas Nase. Darauf befand sich dicker, fester Schlamm, der sich nicht einmal durch die Wucht des Aufpralls löste.
„Ich musste vorhin leider noch mal durch die Schlammgrube hinter dem Schrottplatz gehen. Aber ihr macht das schon“, sagte er und verließ mit einem hämischen Grinsen den Flur in Richtung Ausgang.
„Diesem Idioten haue ich irgendwann aufs Maul“, murmelte Katrina, beugte sich vor und griff sich die Schuhe. Beide verrichteten still ihre Arbeit, bürsteten das Leder, schrubbten die Gummisohlen und ertrugen standhaft die unterschiedlichsten Gerüche, die in ihre Nasen stiegen. Zu dem Mief der verschwitzten Füße gesellte sich noch der Gestank der Kleister-Terpentin-Mischung, die auf Theobalds Haut mittlerweile getrocknet war.
Katrina schaute immer wieder auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand und spürte die Anspannung in ihrem Nacken. Sie hatte schon längst zu Hause sein wollen. Ob ihre Mutter sauer auf sie sein würde? Hatte sie vielleicht gekocht? Wahrscheinlicher war, dass es wieder Suppe gab, so wie in den letzten Wochen. Sie verpasste also nichts.

Nachdem das letzte Paar Schuhe sauber in der Reihe bei den restlichen stand, fegte Theobald mit dem Besen die getrockneten Erdkrümel in die breiten Rillen des Gullideckels neben einer der Türen. „Lass uns gehen“, sagte er, klopfte den Besen ein letztes Mal auf den Boden und stellte ihn an die Wand.
Katrina nahm ihren Rucksack aus dem Spind und ging mit schweren Füßen durch eine der hinteren Türen zur Schranke des Bauhofs, wo sie Theobald einholte und mit ihm den großen Werkshof eine Stunde später als gewohnt verließ. Sie gingen vorbei an kleinen Geschäften über schmale Treppen in noch schmalere Gässchen, in denen sie hintereinander herlaufen mussten. In einer breiteren Seitenstraße angekommen, gesellte sich Theobald wieder an Katrinas Seite. „Weißt du, was ich nicht verstehe?“, fragte er plötzlich.
„Nein, was denn?“ Katrina steckte angespannt die Hände in die Hosentaschen.
„Warum tust du dir das an? Ich meine, dein Vater arbeitet für die Armee, aber ihr wohnt in einem der Walldörfer. Ihr könntet euch doch bestimmt ein Haus innerhalb der Stadtmauern leisten, oder?“
Katrina biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte ihm schon zu viel von sich verraten und damit gerechnet, dass er irgendwann wieder darauf zu sprechen kam.
„Mmh. Bestimmt. Meine Oma …“ Der Druck in ihrer Brust nahm ihr kurzzeitig die Luft zum Reden. Schnell atmete sie ein. „Meine Oma braucht uns auf dem Hof. Der ist im Familienbesitz.“
„Dein Opa ist zu alt dafür?“
„Ja“, antwortete sie und zog die Schlaufen ihres Rucksacks so fest nach vorne, dass es fast schon schmerzte. Konnte er nicht einfach schweigend neben ihr herlaufen?
„Und wo habt ihr vorher gewohnt?“, wollte Theobald wissen und wich einem Händler aus, der ihm mit einem Schubkarren auf dem Gehweg entgegen kam.
„In Hellmark“, sagte sie etwas lauter, bevor er wieder neben ihr lief.
„Ihr seid aus Hellmark an die Grenze zum dunklen Land gezogen?“ Katrina nickte, biss die Zähne zusammen und richtete den Blick nach vorn auf das Straßenpflaster, das sie kurz darauf in eine breite Hauptstraße führte, wo ein geschäftiges Treiben herrschte. Händler luden Waren auf ihre Holzkarren, Bauersfrauen mit vollen Weidenkörben wechselten laut schnatternd die Straßenseite, und zwei schnauzbärtige Männer, die auf ihren Kutschen saßen, unterhielten sich unüberhörbar darüber, wo man hier die besten Fleischkeulen essen konnte.
„Aber diese Arbeit bei Oswald. Das musst du doch nicht machen, oder?“ Warum muss er ständig Fragen stellen?, dachte sie.
„Ich will dazulernen. Ich liebe es, Dinge zu reparieren. Es gibt kein schöneres Gefühl, als etwas Kaputtes wieder ganz zu bekommen“, erwiderte sie. Ihr wurde warm ums Herz, als sie das sagte.
Gleichzeitig bekam sie aber auch eine Gänsehaut, weil sie ihm verschwieg, dass sie das tun musste, da sie die Einzige war, die noch Geld nach Hause brachte.
Theobald nickte und setzte einen Gesichtsausdruck auf, als würde er sie verstehen, sagte aber nichts mehr dazu.
„Und Oswald ist recht bekannt, auch in Hellmark“, fuhr Katrina fort. „Wenn er ein gutes Wort für mich einlegen kann oder mir gute Arbeitspapiere ausstellt, ist das eine Menge wert!“
„Klingt einleuchtend“, meinte Theobald und nickte abermals. Katrina hoffte, seinen Fragenkatalog zu ihrer Vergangenheit jetzt ausreichend beantwortet zu haben. Dabei kam ihr in den Sinn, dass sie heute eigentlich vorgehabt hatte, in die Kirche zu gehen, aber jetzt war es bereits so spät, dass sie nicht wusste, ob der Priester sie noch reinlassen würde. Der gütige Allvater hatte bestimmt Verständnis, wenn sie ihm ihre Wünsche ausnahmsweise von ihrem Bett aus vortrug.

Sie gingen immer weiter die Straße entlang und kamen bald zum Stadttor, dem einzigen Zugang durch die Schutzmauer in Richtung der Walldörfer. Mit den spitzen Stahlpfählen wirkte es wie das offene Maul einer Bestie, das einen morgens verschlang und abends wieder ausspuckte. Oder umgekehrt, je nachdem, auf welche Seite der Mauer man gehen musste, um sein Geld zu verdienen.
Der Boden wechselte von harten Pflastersteinen zu braunem Schotter, über den sie einige Minuten schweigend nebeneinander hergingen, bis sie an der Weggabelung ankamen, an der sich ihre Wege trennten. „Wir sehen uns dann morgen“, sagte Katrina, hob kurz eine Hand zum Abschied und bog nach rechts ab, als Theobald sie an ihrem Rucksack festhielt und an sich zog.
„Hey, was machst du …“, setzte sie an, aber dann drückte er auch schon seine Lippen auf ihre und ließ sie dort verweilen. Zuerst war sie geschockt, danach hielt sie einfach nur still. Ihr Herz machte einen Sprung, und ihr wurde schlagartig heiß, aber auf eine angenehme, entspannende Art.
Nach einer gefühlten Ewigkeit löste er seine Lippen von ihren, verharrte jedoch wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht und schaute ihr tief in die Augen. Katrina hielt die Luft an.
„Gehen wir am Sonntag nach der Kirche zusammen picknicken?“, fragte er.
„Mmhmm“, hauchte Katrina zustimmend und versank in seinen dunkelblauen Augen.
„Gut“, sagte er, drehte sich grinsend von ihr weg und ließ sie auf dem Feldweg stehen. Kurz sah sie ihm noch hinterher, drehte sich dann aber hastig um und ging zögerlich weiter. Falls er sich noch einmal umschaute, sollte er sie nicht so dastehen sehen. Er sollte nicht merken, dass sie verwirrt war und nicht wusste, ob sie das wirklich wollte. Theobald war bisher nur ein guter Freund gewesen, wenn überhaupt. Sie kannte ihn kaum, und seine ganzen Fragen waren ziemlich nervtötend. Was, wenn er weitere stellen würde? Oder gar zu ihr nach Hause kommen wollte?
Auch wenn das gerade das Schönste war, was ihr in den letzten Wochen und Monaten passiert war, versuchte sie, es auszublenden. In ihrem Kopf war einfach kein Platz mehr.
Als sie um die letzte, wild bewucherte Kurve bog, sah sie den Bauernhof mit seinem Vorgarten. Ihre Mutter und vor allem ihre Oma hatten ihn einst mit großer Leidenschaft gepflegt, sodass nicht selten Menschen davor stehen geblieben waren, um die schönen Büsche und bunten Blumen zu bewundern. Freche Bauernjungen hatten hin und wieder versucht, ein paar Blumen zu pflücken, dabei jedoch immer damit rechnen müssen, Omas Besen durch das Fenster auf den Kopf zu bekommen. Jetzt sah man bereits auf große Entfernung, wie sich Büsche, Gräser und Unkraut den Weg bahnten und sogar schon durch den kleinen Holzzaun ragten, der den Garten umgab.
Im Vorbeigehen musterte Katrina den LKW ihres Vaters, der in der Einfahrt langsam vor sich hinrostete, und öffnete die kleine Gartentür.
Über die beiden Betonstufen erreichte sie die Haustür und hielt kurz inne. Was würde sie heute erwarten? Was hatte ihre Mutter den ganzen Tag gemacht? Der Druck in ihrem Brustkorb nahm zu und wurde noch schmerzhafter. Angespannt drückte sie den Griff nach unten und öffnete die Tür.

Roter Einschnitt

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Kapitel 2

Sofort umhüllte sie ein Gefühl der Taubheit. Fast schon neben sich stehend schaute sie in die Küche und dann durch den breiten Türbogen in den angrenzenden Raum.
Zu hören war nichts. Sie legte ihren Rucksack ab, zog die Schuhe aus und genoss die Kälte an ihren Fußsohlen.
Als sie sich umdrehte und einen Schritt auf den Küchentisch zuging, roch sie die Suppe und entdeckte auf dem Herd den großen Topf. Ob sie nicht vielleicht doch lieber hungrig ins Bett gehen sollte?
„Da bist du ja!“
Katrina sah wieder in Richtung Türbogen, in dem plötzlich ihre Mutter stand. Sie sah müde aus, hatte ihre langen, ungewaschenen Haare zusammengebunden und trug dieselbe Kleidung wie in den letzten Tagen. In der Hand hielt sie ein Glas Wasser. Katrina hoffte zumindest, dass es Wasser war.
„Ich musste länger arbeiten“, sagte Katrina und musterte die Bewegungen ihrer Mutter, die in Richtung Herd ging.
„Gut. Setz dich, ich habe uns Suppe gekocht.“
Sie scheint klar im Kopf zu sein, dachte Katrina erleichtert und nahm am Küchentisch Platz, wo schon ein Löffel für sie bereitlag.
Zittrig stellte ihre Mutter einen vollen Suppenteller vor Katrina, die mit einem innerlichen Seufzer den Löffel nahm und darin herumrührte.
Ihre Mutter setzte sich mit Teller und Glas Katrina gegenüber an den Tisch. Unter dem Licht der Küchenlampe traten ihre Augenringe und die Falten noch deutlicher hervor, sodass Katrina den Blick schnell wieder auf die Suppe richtete, bis vor ihrem Teller eine Hand erschien. Katrina ergriff sie und schloss die Augen.
„Allvater, der du bist in der Anderswelt“, begann ihre Mutter. „Behüte uns Menschen, gib uns Speis und Trank und die Kraft, gegen die dunklen Mächte zu bestehen.“
Katrina sprach weiter.
„Denn unser Blut ist rein. Denn unser Blut ist dein. Mögest du uns zu dir holen, bevor ein Geschöpf Yzatas unsren Leib vergiften kann!“
Kurz schwiegen beide. Das war der Teil des Gebets, bei dem man stumm einen eigenen Wunsch an den Allvater richten konnte. Katrina jedoch öffnete vorzeitig die Augen und blickte erst auf den leeren Stuhl ihres Vaters rechts und dann auf den leeren Stuhl ihrer Oma links neben sich. Machte es Sinn, den gleichen Wunsch immer und immer wieder zu äußern?
„So ist es nämlich“, sagten beide nacheinander. Dann lösten sich ihre Hände und sie begannen zu essen.
Katrina hasste diese Momente. Dieses Schweigen, aus dem sie selbst nicht ausbrechen konnte.
Sie tauchte ihren Löffel in die Suppe, beobachtete die kleinen Kräuterstücke und Fettaugen, die sich in ihm sammelten, und führte ihn zum Mund.
Den Blick hielt sie dabei gesenkt. Sie wusste, wie leicht es war, aus den Augen anderer lesen zu können.
Auch ihre Mutter richtete den Blick auf den Teller und trank ab und zu aus ihrem Glas.
„Wie war die Arbeit?“, fragte sie plötzlich.
„Gut. Anstrengend“, antwortete Katrina und schob sich einen weiteren Löffel Suppe in den Mund.
Wenn sie sich unterhielten, kamen ihre Gespräche schon lange nicht mehr über dieses Alltägliche hinaus. Knappe Fragen, ebenso knappe Antworten.
Der Geschmack der Suppe war ihr zuwider, aber wenn sie schnell schluckte, konnte sie ihn ertragen. Sonst gab es immer Brot dazu, was gut sättigte, aber dazu musste man vorher welches kaufen. Katrina selbst war zu stur, um auf ihrem Heimweg Brot zu besorgen. Sie verdiente das Geld und ging arbeiten, während ihre Mutter den ganzen Tag zu Hause war und … irgendetwas machte. Sie wollte darüber nie wirklich nachdenken.
Kurz darauf löffelte sie den letzten Rest Suppe aus und brachte den Teller zur Spüle.
„Es ist noch welche da, wenn du willst“, meinte ihre Mutter.
„Nein, danke“, erwiderte Katrina, wusch den Teller unter dem Wasserhahn ab und stellte ihn neben den Herd.
„Gute Nacht“, sagte sie und ging die Treppe nach oben in ihr Zimmer, wo sie sich umzog, die Deckenlampe ausmachte und sich ins Bett legte, um die Zimmerdecke anzustarren. Durch die beiden Fenster drangen schwache Mondstrahlen, die ihr Zimmer in einen düsterblauen Schleier tauchten.
Auch diesen Moment hasste sie. Sie atmete tief ein und wieder aus. Den Druck in sich spürte sie im Liegen noch deutlicher. Warum konnte sie ihn nicht aus ihrer Brust seufzen oder weinen? Sie hatte schon lange nicht mehr geweint. Nachdem ihr Vater verschwunden und ihre Oma gestorben war, hatte sie oft die ganze Nacht durch geweint. Aber dann, irgendwann, waren keine Tränen mehr gekommen. Stattdessen sammelte sich scheinbar alles hinter ihren Rippen, bis sie irgendwann vor Trauer platzen würde.
Nebenan hörte man das Schnattern der Eek, der mannshohen Vögel auf zwei Beinen, deren Flügel zu klein waren, um damit in die Luft zu steigen. Ihre Schnäbel waren dafür umso größer. Zusammen mit einigen Schweinen und dem Marsal Erwin, einem Tier, das einem Pferd gleichkam, jedoch größer und hübscher war, teilten sie sich den Stall. Heute hatte Katrina zum Glück keine Arbeit mehr darin zu verrichten, so wie gestern, als sie bis Mitternacht in der Scheune gestanden hatte. Jetzt war ihr Körper dementsprechend müde, aber ihr Kopf voller Bilder. Bilder von heute, von gestern und wie es vielleicht morgen aussehen könnte.
Ihr Blick fiel auf die kupferne Dose, die auf dem kleinen Schreibtisch neben der Tür stand und im schwachen Mondlicht nur schwer zu erkennen war. Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt, als sie noch klein war. So klein, dass sie sich an den Moment, an dem er ihr die Dose überreicht hatte, nicht mehr erinnern konnte. Was sie aber ganz sicher wusste, war, dass sie ab diesem Zeitpunkt ihr erstes Taschengeld bekommen hatte. Zunächst waren es fünf Solid im Monat gewesen. Eigentlich zehn, denn ihr Vater hatte ihr immer zwei Scheine gegeben. „Einen in die Tasche und einen in die Dose“, hatte er gesagt, und zwar jedes Mal, einmal im Monat über zehn Jahre hinweg. Später bekam sie zwanzig, dann dreißig Solid. Zwischendurch hatte sie die Dose ein paar Mal geöffnet, um sich etwas kaufen zu können, sodass sie nicht sicher sagen konnte, wie viel sich noch darin befand. Es hatte ihr Spaß gemacht, zu sparen. Und sie erinnerte sich an ihre Freude, wenn ihr Vater am Ende eines Monats – immer nach dem Abendessen – den Geldbeutel auf den Tisch gelegt hatte. Wie gern wäre ich einfach wieder so wie früher, dachte sie, als auf einmal ein leises Klopfen an ihre Ohren drang. War das ein Vogel, der auf einem der Holzbalken des Daches saß? Als es noch mal zu hören war, war sie sicher, dass es von der Zimmertür kam.
„Darf ich reinkommen?“
Es war ihre Mutter, deren Stimme dumpf durch die geschlossene Holztür drang.
„Ja“, antwortete Katrina und runzelte die Stirn.
Die Tür ging auf, ihre Mutter trat herein und knipste das Licht an. Katrina kniff die Augen zusammen, beschwerte sich aber nicht. Was will sie denn von mir?, fragte sie sich, als ihre Mutter die Tür hinter sich schloss und auf der rechten Betthälfte Platz nahm.
Sie schaute auf Katrina herab, die ihren Blick kurz erwiderte, dann aber wieder die Zimmerdecke anstarrte.
„Geht es dir gut?“, fragte ihre Mutter und streichelte über Katrinas Oberschenkel.
„Ja, geht schon.“
„Du vermisst Papa. Und Oma. Richtig?“
Ihre Mutter hielt kurz inne, als würde sie auf eine Antwort warten. „Ja.“
„Ich auch.“
Für einen Moment schwiegen beide.
„Glaubst du, Papa taucht vielleicht doch noch auf? Irgendwann?“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
„Nein, das glaube ich nicht.“
Katrina wusste, wie oft Menschen in diesem Land spurlos verschwanden und nie wieder auftauchten. Aber wenn es in der eigenen Familie passierte, war die Hoffnung immer da, solange man keine Gewissheit hatte. Ihre Mutter musste das doch auch so empfinden, aber vielleicht wollte sie das, aus welchem Grund auch immer, nicht zugeben.
„Glaubst du, eines der dunklen Völker ist daran schuld? Vielleicht ist Papa ja zu einem …“
„Denk nicht mal daran, Katrina! Das wäre schlimmer als der Tod. Ich bete jede Nacht für seine Seele, und das solltest du auch tun“, erklärte ihre Mutter, schloss die Augen und bekreuzigte sich. „Der gütige Allvater soll ihm Kraft geben. Und falls er wirklich gestorben ist, soll seine Seele in der Anderswelt Frieden finden.“
Sie atmete deutlich hörbar aus und öffnete wieder die Augen, um auf den Boden zu starren.
„In Hellmark wäre das nicht passiert“, flüsterte Katrina und wünschte sich im gleichen Moment, es nicht ausgesprochen zu haben. Nachdem Opa vor sechs Jahren gestorben war, hatte ihre Mutter ihre Oma unbedingt auf dem Bauernhof unterstützen wollen. Vor allem, weil es Opa gewesen war, der ihn einst mit eigenen Händen erbaut und bewirtschaftet hatte. Um diesen Familienbesitz zu bewahren und dank des Bauernhofs leben zu können, hatte ihre Mutter sogar den Töpferladen in Hellmark aufgegeben, der seit neunzehn Jahren ihr gehörte. Sie liebte das Töpfern.
Und jetzt? Jetzt verfluchte sie sich bestimmt selbst für ihre Entscheidung und auch dafür, Papa und Katrina da mit reingezogen zu haben, ohne dass Katrina mit solchen Kommentaren auch noch Öl ins Feuer goss.
„Du weißt, dass ich dich nicht aus deiner Heimat zerren wollte, aber … du verstehst doch, dass ich Oma nicht alleine lassen konnte, oder?“ Katrinas Herz schlug schneller. Sie nickte und presste die Lippen aufeinander. Dabei konnte sie den Blick ihrer Mutter nicht erwidern. „Können wir nicht zurück?“, flüsterte Katrina.
„Nein, das können wir nicht.“
Katrina dachte an ihren Onkel. Nach Omas Tod war er den weiten Weg aus Hellmark mit dem Zug gekommen, um ein paar Tage bei ihnen zu bleiben. Er und Katrina hatten sich unterhalten, auch über frühere Zeiten, in denen sie gemeinsam im Laden unter ihrer Wohnung das Schweißen geübt, Radios auseinandergebaut und Funkgeräte repariert hatten.
„Onkel Alaric meinte bei seinem Besuch, er wird sich bald eine Hilfskraft suchen müssen. Ich … Wir könnten zurück nach Hellmark gehen und …“
„Nein, Katrina. Das können wir nicht“, unterbrach ihre Mutter sie mit leiser Stimme, aber entschlossenem Tonfall.
„Aber ich kann bei ihm im Laden Geld verdienen, dann …“
„Wir sind jetzt für diesen Bauernhof verantwortlich“, erklärte ihre Mutter mit etwas lauterer Stimme und strengem Blick. „Er ist unser Erbe. Wir müssen ihn pflegen und am Leben halten.“
Sie schien nicht daran zu denken, dass Katrina es war, die das seit mehreren Wochen tat, und zwar allein.
„Unter uns Reichenlicht-Frauen gab es schon immer den stummen Pakt, zusammenzuhalten und in schweren Stunden füreinander da zu sein. Du weißt selbst, welch dunklen Kräfte nach unser aller Seelen greifen. Was bleibt uns anderes übrig als das tiefe Vertrauen in die Familie und den gütigen Allvater?“
Sie legte eine Hand auf Katrinas Bauch. Diese zog einen Arm unter dem Kopf hervor und ergriff sie. Ihre Mutter streichelte Katrinas Fingerknöchel mit dem Daumen.
„Soldaten auf dem Schlachtfeld haben Waffen, Katrina. Wir einfache Menschen haben nur uns“, sagte sie, ließ ihre Hand wieder los und zog den silbernen Ring von ihrem Finger. Dann drehte sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger im Licht der Deckenlampe hin und her, als ob sie etwas darauf suchen würde.
„Kannst du die Gravur im Inneren erkennen?“, fragte sie.
Katrina richtete sich auf und rutschte näher. Sie nahm den Ring in die Hand und drehte ihn, bis sie eine kleine, geschwungene Schrift auf der Innenseite lesen konnte.
„Immer zusammen, niemals alleine“, flüsterte sie leise.
„Dein Vater hat das bei einem der teuersten Schmuckhändler in Nebelbann eingravieren lassen. Dieses Versprechen gilt für unsere gesamte Familie bis über den Tod hinaus“, erklärte ihre Mutter, schob den Ring wieder auf ihren Finger und rutschte näher an Katrina heran, um sie fest an sich zu drücken.
„Ich liebe dich über alles, und ich hoffe, das weißt du!“
Katrina war zuerst überrascht, drückte ihre Mutter dann aber ebenso fest und legte den Kopf auf ihre Schulter.
„Ich dich auch, Mama!“
„Keines dieser dunklen Monster darf unsere Familie jemals entzweien!“ „Niemals“, flüsterte Katrina, dachte noch einmal an die Gravur des Ringes und hoffte, dass sich ihre Mutter an diesen stummen Pakt noch erinnern würde, wenn kein Wasser in ihrem Glas war, sondern wieder einmal hochprozentiger Schnaps.

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Kapitel 3

Den gesamten Arbeitstag über hatte sie es geschafft, Theobald und seinen Fragen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte ihre Aufträge so gewählt, dass sie immer in einem anderen Bereich als er arbeiten musste. Auch in der Mittagspause, in der sie ihm eigentlich ihre Wettschulden in Form eines Mittagessens zahlen sollte, blieb sie drinnen und gesellte sich nicht zu den anderen nach draußen an die Essensbude.
Am Abend zog Katrina erschöpft ihren Rucksack aus dem Spind und verließ die Halle durch eine der hinteren Garagen, um sich alleine auf den Heimweg zu machen. Sie erschrak, als sie Theobald neben den Mülltonnen stehen sah. Er lächelte sie an und kam zu ihr.
„Wo warst du denn heute, ich habe dich kein einziges Mal gesehen?“, fragte er.
„Ich hatte viel zu tun, vor allem beim Schweißen!“
Zusammen verließen sie das Gelände und bogen in eine Straße.
„Wie bist du zu so einer guten Schweißerin geworden, dass jeder damit zu dir kommt?“
„Mein Onkel in Hellmark hat es mir beigebracht.“
„Nicht übel, die Arbeit scheint dir ja echt Spaß zu machen.“
Katrina nickte und schob ihre Daumen unter die Schlaufen des Rucksacks.
Die Stadt wurde schon durch die Nachtbeleuchtung erhellt, obwohl die Monde noch weit über dem Horizont standen. Orangefarbenes Licht mischte sich mit blauem Mondschein auf roten Backsteinwänden, die von schmalen, pechschwarzen Seitengassen unterbrochen wurden. In der Ferne hörte man den lauten Motor eines Lastkraftwagens, aber auch immer wieder das Klappern von Pferdehufen auf dem Straßenpflaster, wobei die Tiere entweder einen Reiter trugen oder eine ratternde Kutsche hinter sich herzogen. Viele Leute waren ebenfalls auf dem Weg nach Hause oder gerade dabei, die letzten Besorgungen zu erledigen. „Hast du Lust, noch ein paar Eek vor der Stadtmauer zu füttern? Bauer Kellermann hat ein paar besonders hübsch gefiederte Exemplare“, schlug Theobald begeistert vor und sah sie mit seinen strahlenden blauen Augen an. Ihr Herz schlug kurz schneller, was ihr die Luft zum Antworten nahm. Als sie das merkte, wich sie seinem Blick aus und schaute zu einer Kutsche hinüber, die neben ihnen über die Straße polterte.
Auch wenn sie damit rechnete, weitere Fragen beantworten zu müssen, schien es ihr eine angenehme Alternative zur Suppe und dem anstrengenden Schweigen zu Hause zu sein.
„Ja, gut“, erwiderte sie, räusperte sich und bemerkte in ihrem Hals einen dicken Knoten, der beim Sprechen schmerzte.
Durch ein paar verwinkelte Gässchen nahmen sie eine Abkürzung zu einer Bäckerei, die noch geöffnet war. Theobald betrat den Laden, während Katrina davor wartete.
Vielleicht würden sie sich wieder küssen? Katrina wusste nicht so recht, ob sie das wollte, obwohl es sehr schön gewesen war.
„Sie hatten noch viel altes Brot, da werden sich die Federviecher sicher freuen“, sagte Theobald, als er wieder aus dem Laden kam, und warf Katrina eine prall gefüllte Papiertüte zu, die sie ungeschickt auffing. Alte Brotscheiben und zahlreiche halbe Brötchen waren darin zu spüren.
„Sehr gut“, erwiderte sie, und gemeinsam verließen sie die Stadt durch das riesige Tor. Kaum bei den Walldörfern angelangt, hörten sie auch schon von Weitem die schnatternden Rufe der Eek. Als sie den Holzzaun des Geheges erreichten, schloss Bauer Kellermann gerade das Gatter hinter sich.
„Wir haben ein bisschen Futter für Ihre Tiere. Dürfen wir sie füttern?“, fragte Theobald. Katrina hielt die Tüte demonstrativ vor sich. Der Bauer drehte sich zu den beiden um und musterte sie skeptisch.
„Brot? Jo, gut, macht das mal! Aber nicht zu viel, die Tiere krieg’n sonst Durchmarsch“, nuschelte er und erhob mit ernster Miene einen Zeigefinger. Dann drehte er den beiden den Rücken zu und ging unter den Laternen am Zaun entlang in Richtung des kleinen Schuppens. „Durchmarsch?“, fragte Katrina und grinste Theobald an.
„Bauer Kellermann ist in Ordnung. Etwas eigen, aber in Ordnung“, meinte er, nahm Katrina die Tüte ab und griff nach einer Brotscheibe. Ein paar Meter entfernt standen die Eek mit ihren riesigen, gelben Schnäbeln. Im Licht der vielen Scheinwerfer und Gaslaternen scharrten sie mit den Krallen in der Erde und pickten sich Würmer und andere Insekten heraus. Manche hatten tatsächlich ein Gefieder, das man nicht sehr häufig an den Tieren beobachten konnte. Normalerweise waren sie braun und an Brust und Bauch fast schon weiß. Ihre kurzen, buschigen Schwanzfedern waren, wie die abstehenden Nackenfedern der Männchen, in einem schimmernden Grün. Manche dieser Eek hatten jedoch fast schon schwarze Körperfedern.
„Woher dieses besondere Federkleid wohl kommen mag?“, fragte Katrina. „Ich habe gehört, dass Bauer Kellermann diese Tiere von einem Bauern gekauft hat, dessen Felder vom kalten Feuer durchzogen waren. Als es durch die Erde brach, musste er seinen gesamten Hof aufgeben.“
„Du glaubst, das kalte Feuer hat die Tiere verändert?“
„Klingt einleuchtend, oder? Es wundert mich nur, dass die Soldaten die Tiere am Leben ließen, nachdem sie den Hof abgesperrt und das Gelände zubetoniert hatten.“
Katrina stützte die Ellbogen auf die oberste Zaunlatte. Theobald hob die Hand mit dem Brot und winkte damit in der Luft herum. Als die Riesenvögel ihn entdeckten, trabten sie gemütlich zu ihm hinüber. Einige stellten ihre Nackenfedern auf und schnatterten, als wollten sie ihre Artgenossen auf die neue Futterquelle aufmerksam machen. „Pass auf ihre Schnäbel auf!“, warnte ihn Katrina, die mit den Tieren auf dem eigenen Bauernhof schon unangenehme Erfahrungen gemacht hatte.
„Ja, ich weiß schon“, sagte Theobald und schmiss die Brotscheibe über den Zaun, bevor die Eek nahe genug waren, um nach seiner Hand schnappen zu können. Schnatternd stritten sich die Tiere darum. Weitere kamen hinzu, sodass kurz darauf acht Tiere lautstark um Brotscheiben bettelten.
Theobald schmiss einige sehr weit in die linke Hälfte des Geheges, ging aber weiter nach rechts am Gatter entlang in Richtung eines Baumes, der von dichten Büschen umgeben war und auch durch den Holzzaun ins Gehege wucherte. Dichte Pflanzen ergaben mit dem buschigen Baum fast schon eine Art Unterschlupf.
„Wo willst du denn hin?“, fragte Katrina.
„Ach, nur etwas mehr nach dort, damit sich die Tiere besser verteilen“, erwiderte er und näherte sich weiter dem Baum und den Büschen, warf das Brot aber immer noch nach links. Fast wäre er noch über die Mistgabel gestolpert, die am Zaun lehnte, so sehr konzentrierte er sich darauf, wohin er das trockene Brot warf. Katrina folgte ihm, bis er neben dem Baum stand und noch einen Schritt weiter in die Büsche ging.
„Was soll das?“, wollte Katrina wissen und kam bis auf ein paar Schritte an ihn heran, während die Eek im Gatter mit dem Fressen beschäftigt waren. Jetzt starrte Theobald sie an.
„Katrina. Ich … habe das Gefühl, du bist jemand, dem ich alles erzählen kann.“
Ihr stockte der Atem. Was sollte das werden?
„Mein Leben hat sich in den letzten Wochen stark verändert. Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme. Ich kann nachts kaum schlafen. Mich plagen Albträume … und mein Vater …“
Seine Stimme erstarb, er starrte vor sich auf den Boden und drückte das Kinn auf die Brust.
„Aber was ist denn los? Was ist passiert?“
„Du würdest es mir sicher nicht glauben“, sagte er, ohne den Kopf zu heben. „Ich will nicht so sein. Vielleicht … kann dein Vater mir ja helfen, er arbeitet doch bei der Armee … Ich zeige es dir am besten, aber bitte erschrick nicht, ja?“
Theobald machte ein schmerzverzerrtes Gesicht und atmete schneller. Er ließ die Tüte mit dem restlichen Brot fallen, und mit jeder Sekunde wurde seine Haut schwärzer, als würde sie sich von innen mit dem Kleister vollsaugen, den sie sonst auf die Hülle der Zeppeline schmierten. Katrina wusste nicht, was sie tun sollte, und stand einfach nur da, während sich Theobalds Unterkiefer mit erschreckenden Geräuschen nach vorne bog, seine Finger sich in die Länge zogen und sich durch seine mittlerweile komplett schwarze Haut Tausende von Haaren bohrten. Die Eek hinter ihnen ergriffen lautstark kreischend die Flucht und schienen plötzlich gar nicht mehr hungrig zu sein. Katrina überlegte, ob sie nicht auch weglaufen sollte, und trat einen Schritt zurück. Ihr war eiskalt. Theobalds Augen färbten sich schwarz, und er fing an zu stöhnen, als er auf die doppelte Größe anwuchs und kurz darauf vor Erschöpfung schnaufend als ausgewachsener Werwolf auf dem Boden kniete. Katrina zitterte, atmete durch den Mund und hatte trotzdem das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Sie machte einen weiteren Schritt nach hinten und stieß mit ihrem Fuß gegen die Mistgabel am Zaun. Erschrocken blickte sie auf die langen Zinken, die im Licht der beiden Monde aufblitzten.
„Katrina, ich …“, sagte der Werwolf mit tiefer Stimme und stand auf, sodass er noch größer und bedrohlicher wirkte.
„NEIN!“, rief Katrina, packte die Mistgabel, rannte damit auf den Werwolf zu und rammte sie der Bestie in den muskelbepackten Oberkörper. Der Werwolf riss die schwarzen Augen weit auf. Katrina presste die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und drückte sich mit ganzer Kraft und ihrem ganzen Gewicht gegen das Monster, bis der Werwolf wieder auf die Knie sank.
„Katrina … Nein!“, stieß der Werwolf aus und kippte nach vorne, als Katrina die Hände von der Mistgabel löste und nach hinten taumelte. Die Gabelspitzen bohrten sich unter dem Gewicht des Monsters noch tiefer in seinen Brustkorb. Der Werwolf versuchte, sie mit den riesigen Pranken aus seinem Körper zu ziehen, schaffte es aber nicht. Er stöhnte, knurrte und gab seltsame, gutturale Laute von sich, bis nur noch die schnatternden Eek in der Ferne zu hören waren und das Monster schlaff auf die Seite fiel.
Katrina sackte in sich zusammen und schrie aus voller Kraft. Immer wieder, immer lauter und noch gequälter als zuvor. In ihrem Kopf bildete sich neben einem quälenden Druck eine unglaubliche Hitze. Was war da gerade passiert? Wie zum Allvater war das möglich, und warum passierte es gerade ihr?
Solche Geschichten gab es doch nur in der Zeitung!
Warum sie?
Nein!
Auf dem Rücken liegend starrte sie in den Himmel, wo die Wolken im Mondschein teilnahmslos weiterzogen wie stumme Beobachter.
„Mädchen, was hast du denn, was …?“
Kellermanns Gesicht schob sich vor die Wolken. Noch bevor er ihr aufhelfen konnte, sah er den toten Werwolf zwischen den Büschen. „Beim mächtigen Allvater … Beschütze unser Blut, unseren Hof und unsere Stadt“, betete er und zog Katrina auf die Beine, ohne den Blick vom Werwolf abzuwenden.
„Der ist tot, oder? Sag mir, dass dieses Giermaul tot ist!“
„Denke schon“, stammelte Katrina, die regungslos dastand.
Der Bauer brachte sie mit tröstenden Worten in seine Scheune, drehte sich bei jedem zweiten Schritt zu dem Werwolf um und bat Katrina, sich auf einen der Heuballen zu setzen und dort sitzen zu bleiben. „Beruhige dich, ja? Ich hole Hilfe“, sagte er und rannte los in Richtung Stadttor.
Katrina nahm den Rucksack ab, verschränkte die Arme vor dem Bauch und starrte die Strohhalme auf dem Boden an. Sie hörte Stimmen. Dann mehrere Fahrzeuge.
„Gehen Sie weiter, zu Ihrem eigenen Wohl“, hörte sie einen Mann rufen. Immer mehr Stimmen waren in der Ferne zu vernehmen.
Plötzlich standen zwei schwere Stiefel auf den Strohhalmen, was Katrina nicht davon abhielt, weiter auf diese Stelle zu starren. „Allvater zum Gruße! Der Bauer sagte, du hättest den Werwolf getötet“, meinte der unbekannte Mann.
Katrina schwieg und starrte weiter vor sich hin. Sie sah die Zähne, die Haare und die Augen des Werwolfs vor sich, kurz bevor er tot zusammenbrach. Wie hatte er ins Dorf kommen können?
„Ich muss dir ein paar Fragen stellen. Daran führt kein Weg vorbei, also hilf mir bitte, dann dauert es nicht allzu lange, verstanden?“, sagte der Mann, und man hörte erst leises Rascheln von Papier, dann ein Feuerzeug.
„Name?“
„Katrina“, antwortete sie knapp. Außerhalb der Scheune wurde das Treiben immer lauter. Jetzt fuhr sogar ein großer Lastkraftwagen vorbei.
„Nachname?“
Katrina atmete verzweifelt aus und versuchte, noch einmal tief Luft zu holen, was ihr jedoch nicht gelang. Der Druck in ihrer Brust schmerzte zu sehr.
„Reichenlicht“, erwiderte sie und schob sich die Haare hinter die Ohren.
Der Soldat schwieg. Katrina hörte nur, wie er den Rauch seiner Zigarette ausstieß.
„Reichenlicht? Bist du etwa die Tochter von Nudon Reichenlicht?“, wollte er plötzlich wissen.
„Dein Vater war ein guter Mann. Ich habe mehrere Monate mit ihm zusammengearbeitet und den Allvater schon oft darum gebeten, ihn wohlbehalten wieder zu euch zurückzubringen“, sagte der Soldat, während er seinen Geländewagen über die sandigen Wege lenkte. Dabei wirbelte er jede Menge Staub auf. Bauersfrauen, die ihre Einkäufe nach Hause transportierten, traten zur Seite, schauten dem Wagen staunend hinterher und hielten sich gleich darauf Mund und Nase mit der Schürze zu.
Das Funkgerät in der Mitte der Konsole gab knackende Geräusche von sich, die sich mit unverständlichen Stimmen vermischten.
„Wir müssen dich kurz überprüfen. Reine Routine. Jeder, der Kontakt zu einem Drecksblut hatte, muss das über sich ergehen lassen“, fuhr er fort, zog an seiner Zigarette und blies den würzigen Rauch aus dem halb offenen Fenster.
Überprüfen? Was würden sie mit ihr machen? Plötzlich kam ihr Theobalds Kuss wieder in den Sinn. War sie vielleicht schon infiziert?
Bald verschwanden die Bauernhöfe und Schuppen, stattdessen hatte man eine weite Sicht über die Felder auf den hell erleuchteten Militärstützpunkt mit seinen zahlreichen Wachtürmen, Zäunen und Suchscheinwerfern. Die beiden Monde waren fast untergegangen, als sie die Schranken passiert hatten.

In den zwei Stunden auf dem Stützpunkt wurde ihr Blut abgenommen und man stellte ihr viele Fragen, darunter auch, wie eng der Kontakt zu Theobald gewesen war. Sie verschwieg den Kuss. Nachdem sie einige Papiere unterschrieben hatte, fuhr der Soldat, dessen Namen sie immer noch nicht kannte, sie nach Hause und stoppte den Geländewagen vor der kleinen Gartentür ihres Bauernhofs.
Jetzt würde sie das Essen ausfallen lassen müssen, wenn sie die Stallarbeit noch erledigen wollte. Dennoch würde es sicher bis nach Mitternacht dauern.
„Du bist wirklich ein tapferes Mädchen!“, erklärte der Soldat und streckte ihr eine Hand entgegen. Katrina lächelte kurz und schüttelte sie.
„Danke fürs Heimbringen“, sagte sie, griff ihren Rucksack und stieg aus.

Kurz bevor sie die Haustür öffnete, hörte sie Stimmen dahinter, die sie nicht kannte. Als sie durch die Tür trat, bestätigte sich dieser Eindruck, denn drei fremde Männer saßen zusammen mit ihrer Mutter am Küchentisch.
„Ah, da ist sie ja“, sagte diese mit gespielter Freundlichkeit und einem so breiten Lächeln, wie Katrina es bei ihr schon monatelang nicht mehr gesehen hatte.
„Ich habe gerade erfahren, was passiert ist, und bin mächtig stolz auf dich, mein Kind!“
Ihre Mutter umarmte sie kurz und schob sie dann zu den drei Männern hin, die sie erst anstarrten und dann ruckartig von ihren Stühlen aufstanden, um sich zu verneigen.
Zwei der Männer waren etwa gleich groß und trugen Anzüge. Einer der beiden hatte eine kleine Schreibmaschine vor sich auf dem Küchentisch stehen. Der dritte war etwas kleiner, sodass er Katrina direkt in die Augen blicken konnte, und hatte eine Glatze. Seine Kleidung war mit einer blauen Latzhose nicht ganz so formell.
„Ich grüße dich!“ Der Latzhosenträger ging zu Katrina, um sich vorzustellen. Dabei schüttelte er ihr die Hand. Daraufhin trauten sich auch die anderen beiden nach vorne. Nachdem alle ihre Namen genannt hatten, hatte Katrina sie auch schon wieder vergessen. Alle drei arbeiteten für bekannte Zeitungen aus der Umgebung, darunter auch die Hofsteiner Morgenpost, die ihr Vater jeden Morgen gelesen hatte.
„Setz dich“, forderte ihre Mutter sie auf und zog den Stuhl neben ihr unter dem Tisch hervor. Die drei Männer nahmen wieder auf der gegenüberliegenden Seite Platz.
„Muss ein gutes Gefühl sein, etwas für die Sicherheit der Stadt getan zu haben, oder?“, erkundigte sich einer der Anzugträger, schaute Katrina in die Augen und legte ein leeres Blatt Papier in den Schlitten der Schreibmaschine.
„Ja, mir geht es ganz gut“, erklärte sie, schaute vor sich auf den Tisch und faltete die Hände.
„Wie kam es dazu, dass du plötzlich einem Werwolf gegenüberstandest?“, fragte der Unscheinbare in der Mitte.
„Hm, also … Ich bin mit meinem Arbeitskollegen …“
„Wie war noch gleich sein Name?“, wollte der Redakteur daneben wissen und hatte die Finger schon auf den Tasten liegen.
„Ist das wichtig, wie er hieß?“, entgegnete Katrina.
„Theobald Gossler war sein Name“, warf ihre Mutter ein, die ein zufriedenes Grinsen auf den Lippen hatte, das Katrina Angst machte. Alle drei fingen an zu schreiben, und die Typenhebel der Schreibmaschine schnellten auf das Papier und erzeugten ein unrhythmisches Klackern.
Katrina atmete tief ein, krempelte ihre Ärmel hoch und öffnete zitternd den obersten Knopf ihres Hemdes. Dann legte sie die Hände wieder auf den Tisch, ballte eine Hand zur Faust und strich mit dem Daumen der anderen über ihre Fingerknöchel.
„Wusstest du, dass er ein Werwolf war?“, fragte der Glatzkopf. „Nein! Natürlich nicht!“, antwortete Katrina, runzelte die Stirn und richtete den Blick weiterhin vor sich auf den Tisch.
„Habt ihr euch sehr nahegestanden?“, erkundigte sich der Schreiber daneben, ohne von seinem Papier aufzuschauen.
„Er war ein guter Freund, wir wollten ein paar Eek füttern … und dann …“
„Bist du traurig über seinen Tod?“, wollte der Glatzkopf wissen, der hektisch auf seinem Blatt herumkritzelte.
Kurz war es still. Katrina suchte nach den passenden Worten, verschränkte die Beine unter dem Tisch und presste die Lippen aufeinander.
„Sie ist sehr stolz auf ihre Tat und weint diesem Drecksblut in keinster Weise eine Träne nach, meine Herren“, schaltete sich ihre Mutter ein.
„Diese Dämonen machen uns Menschen das Leben so schwer, sie sollen bei Yzata schmoren!“
Der Glatzkopf mit der Latzhose schob zwischenzeitlich sein erstes Blatt Papier zur Seite, und Katrina sah, dass er nichts geschrieben hatte. Vielmehr hatte er eine Zeichnung von ihr angefertigt, die ihr nicht gefiel. Ihre Haare waren viel zu wirr, und ihr Blick war grimmig.
„Also noch einmal, wie nahe standet ihr euch? Hattet ihr engeren Körperkontakt?“, fragte der Mann mit der Schreibmaschine, ohne aufzuschauen, während er seine Typenhebel weiter auf das Papier klackern ließ.
Katrina glaubte, sich verhört zu haben, hob den Kopf und sah den Redakteur an. Zuerst bemerkte dieser es nicht, weil er noch einen Satz zu Ende tippte, aber dann sauste der letzte Hebel aufs Papier und er blickte auf. Erschrocken über ihren vielsagenden Blick schaute er wieder auf die Tasten, betätigte sie aber nicht und räusperte sich. Dann hielten auch die anderen beiden Männer inne.
Jetzt war sich Katrina sicher, dass die Zeichnung ihr doch gerecht wurde.
„Sie verschwinden jetzt!“, flüsterte sie und schaute dabei nacheinander in die erschrockenen Augen der drei Männer. Sie hatte gerade einen Werwolf getötet, da würde sie doch wohl locker mit drei Schreiberlingen fertig werden.
„Aber, Katrina, du kannst doch nicht …“, begann ihre Mutter, aber Katrina ignorierte sie und stand so ruckartig auf, dass der Stuhl hinter ihr umkippte.
„Ich werde nichts mehr zu diesem Vorfall sagen“, erklärte sie ruhig. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche durch das Lesezimmer und ging von dort durch die Hintertür zum Stall, wo sie vor der Mistgabel kurz zögerte, diese dann aber packte und im Licht einer schummrigen Gaslampe anfing, das Heu vom Boden in eine Schubkarre zu schippen. Danach fütterte sie die Tiere und striegelte Erwins Fell, das an manchen Stellen schon verfilzt war. Bald spürte sie in ihren Knochen, dass es für heute genug war. Mehr als genug. Sie wollte einfach nur noch ins Bett. Das schummrige Licht tat sein Übriges, und so krempelte sie erschöpft die Ärmel hoch, sperrte den Stall hinter sich zu und ging wieder zurück ins Haus. Auf das Duschen verzichtete sie, auch wenn sie es dringend nötig gehabt hätte.

Im Lesezimmer sah sie, dass es bereits ein Uhr nachts war. Sie überlegte kurz, wie viele Stunden Schlaf sie noch bekommen würde, als sie im Türbogen zur Küche stehen blieb.
Ihre Mutter saß alleine am Küchentisch und leerte gerade mit einem kräftigen Schluck ihr Glas. Diesmal war es kein Wasser, denn neben unzähligen Bierflaschen standen auch zwei Schnapsflaschen auf dem Tisch, von denen eine fast leer war.
Die anderen Stühle standen noch exakt so am Tisch wie vor einigen Stunden, nur ohne die drei aufdringlichen Schreiberlinge darauf.
„Da bist du ja“, sagte sie und schaute Katrina mit glasigem Blick an. „Zuerst schleppste … fremde Menschen hierher … und dann hausde ab und ich muss irgendwelche Fragen beantworten. Was fällt dir ein?“, schimpfte sie, öffnete ungelenk eine Bierflasche und nahm einen kräftigen Zug. Ihre Augen machten Katrina Angst, die den Blick senkte und die schwarzen Rillen des Holzbodens unter sich anstarrte. „Die Stallarbeit hast du hoffentlich erledigt“, lallte ihre Mutter.
„Nichts kannst du! Du bist unnütz, hörst du? Du bist ein kleiner Haufen Nichts, hörst du?“
Ihre Stimme schallte durch den ganzen Raum und versickerte in den schmutzigen Töpfen, die schon seit Tagen nicht mehr gespült worden waren. Katrina wartete, dass sie ihr auch dafür die Schuld geben würde.
„Du bist ein Nichts! Deinetwegen ist er nicht mehr da! Nur deinetwegen!“
Die Worte trafen Katrina wie Speerspitzen und verwundeten sie ebenso schwer.
Katrina stand einfach nur da. Die Taubheit legte sich wieder über ihren Körper, die all ihre Gefühle überdeckte und in Watte packte. Sie atmete abgehackt, und ihre Brust zog sich derart zusammen, dass ihre Lunge zusammenzuschrumpfen schien. Sie schaute ihre Mutter an, als diese plötzlich eine halbvolle Bierflasche nur wenige Zentimeter an ihrem Kopf vorbei an die Küchenwand warf. Die Flasche zersprang in tausend kleine Kristalle, von denen ein Großteil in Katrinas Haaren hängen blieb. Reste des Bieres liefen ihr über die Wange, als sie auf die Knie sank. Sie rang nach Atem und atmete immer wieder ein, aber es kam keine Luft in ihren Körper.
Schwankend stand ihre Mutter auf, während Katrina röchelnd auf die Scherben und den Bierschaum starrte.
„Mach das weg!“, verlangte ihre Mutter, ging ins Schlafzimmer und donnerte die Tür hinter sich zu.
Katrina blieb auf den Knien hocken, blickte in die hintere Ecke der Küche neben dem Türbogen und krabbelte auf allen Vieren dorthin, um nach dem Eimer zu greifen. Ihre Beine waren zu schwach und ihre Knie zu weich, um aufstehen zu können. Warum tat ihre Mutter ihr das an? Zurück bei den Scherben fing sie an, diese aufzusammeln.
Was hatte sie falsch gemacht?
Sie atmete noch immer schwer. Vielleicht würde sie einfach hier ersticken, in die Anderswelt zu ihrem Vater und ihrer Oma kommen, und alles wäre wieder gut.
Unachtsam griff sie nach einer Scherbe und schnitt sich dabei in den Daumenballen. Als sie den Schmerz spürte, konnte sie mit einem Schlag wieder frei atmen. Und als sie ausatmete, spürte sie, wie der Druck aus ihr herausschoss wie ein angestauter Wasserfall. Mehrmals füllte sie ihre Lunge mit Luft und genoss das Gefühl. Als sie das Blut sah, das von ihrer Hand auf den Boden floss, merkte sie, wie gut sich das anfühlte. Ein wohliges Kribbeln kroch von ihrer Hand in den Rest des Körpers und vermittelte ihr das Gefühl, am Leben zu sein. Auch die Taubheit war verschwunden. Sie war wieder hier, zurück in der Wirklichkeit, fühlte sich leicht, fühlte überhaupt irgendetwas.
Sie schloss die Augen und genoss die Entspannung und die Leere in ihrem Kopf. Keine Gedanken, keine Bilder. Einfach nur hier und jetzt.

Roter Einschnitt

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Kapitel 4

Am nächsten Tag kam sie erschöpft in den Umkleidekabinen der Werkstatt an. Ihre Mutter hatte sie an diesem Morgen nicht gesehen. Sie schlief wahrscheinlich ihren Rausch aus. Ob sie sich an letzte Nacht erinnern kann?, fragte sie sich und öffnete ihren Spind. Ein paar der Mädchen hinter ihr zogen sich gerade um. Andere unterhielten sich. Als sie Katrina bemerkten, wurde es deutlich leiser und sie konnte die Blicke in ihrem Rücken förmlich spüren, während sie ihren Rucksack in den Spind schmiss. Im oberen Fach entdeckte sie ihre Zigaretten. Die werden mir heute gut tun, dachte sie und steckte sie sich in die breite Seitentasche ihrer Hose.
„Hey, wie geht es dir?“
Katrina drehte sich um. Gwendolyn stand vor ihr. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug über ihrem ölverschmierten Hemd eine blaue Schürze. In der rechten Hand hielt sie ein Paar Handschuhe.
„Gut, wieso?“, antwortete Katrina und schaute zu der Mädchentraube am Ende des Raumes, die sie erst alle anstarrten, ihrem Blick dann aber schnell auswichen.
Gwendolyn zog sie am Ärmel aus der Umkleidekabine in den Flur.
„Ich habe es heute Morgen von Lisa gehört. Stimmt das?“
Katrina atmete tief durch und blickte auf den Boden. Dann nickte sie.
„Oh Mann, das ist echt unglaublich! Er war doch … ein ganz normaler Junge. Ein bisschen ungebildet zwar, aber total unauffällig.“ „Ich kann es mir auch nicht erklären, es ist einfach passiert.“ Sie schaute zum Ende des Flurs, wo ein Arbeiter gerade aus einer Tür kam, Katrina sah und seinen Schritt in Richtung Halle beschleunigte. Bevor er durch die große Tür verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihr um.
„Wann gehst du zu Oswald?“, wollte Gwendolyn wissen.
„Warum sollte ich zu ihm gehen?“
„Überleg doch mal! Du hast seine Werkstatt und alle Mitarbeiter vor einem Unglück bewahrt. Was wäre gewesen, wenn er sich hier verwandelt hätte? Das hätte ein Blutbad geben können!“
„Ich glaube nicht, dass Theobald das jemals getan hätte.“
„Na, ist ja auch egal, auf jeden Fall würde ich bei Oswald eine satte Bonuszahlung verlangen. Die hast du dir verdient.“
„Hör auf, ich …“, meinte Katrina und zögerte. „Ich will nicht auch noch Geld dafür!“
Katrina ließ Gwendolyn im Flur stehen und ging den Gang hinunter zur großen Halle. Als sie durch die beiden Flügeltüren schritt, ragte vor ihr eine Wand aus Arbeitern auf. Die beiden Türklappen schnappten hinter ihr wieder zusammen, was man in der gesamten Halle hörte, denn es herrschte Totenstille. Dort, wo normalerweise Maschinen ratterten, Motoren dröhnten und Arbeiter sich lauthals dumme Sprüche zuriefen, hörte sie jetzt sogar das Surren der Neonröhren, die mehrere Meter über ihr hingen. Mit ölverschmierten Gesichtern, abgetragenen Klamotten und abgenutzten Werkzeugen in den Händen starrten die anderen Katrina an. Von irgendwoher kam ein Klatschen, dann fiel jemand ein, und gleich darauf applaudierte ihr die gesamte Mannschaft. Darunter war sogar Hendrik, der ihr respektvoll zunickte. Katrina dachte an ihre Mutter und die Schreiberlinge und zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Vereinzelt schaute sie die Arbeiter kurz an, richtete den Blick aber hauptsächlich auf den Boden. „Danke“, sagte sie, was aber im Jubel unterging, und nickte. Sie blieb wie angewurzelt stehen, bis sich die Menge auflöste und Oswald vortrat. Gwendolyn war mittlerweile aus dem Flur gekommen, boxte ihr von hinten gegen die Schulter und machte ein vielsagendes Gesicht, als sie an ihr vorbei zu ihrem Arbeitsplatz ging.
„Du bist mir ja eine!“, verkündete Oswald und streckte ihr eine Hand entgegen. Sein Händedruck war etwas schmerzhaft.
Danach schlug ihr Oswald auf die Schulter, sodass sie einen Schritt zur Seite gehen musste, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Bevor du heute gehst, kommst du noch mal in mein Büro, verstanden?“, sagte er mit ernstem Gesicht und ging hinter ihr durch die Tür in Richtung Umkleidekabinen. Katrina stand jetzt alleine da und beobachtete, wie die Arbeiter ihrer Wege gingen. Kurz darauf beherrschte der Lärm der Maschinen und Motoren wieder die Halle.

Am Ende ihres Arbeitstages stand Katrina vor Oswalds Schreibtisch, während er im gepolsterten Ledersessel Tabak auf einen dunklen Papierstreifen verteilte. Rufe und metallener Lärm drangen von außen in das Büro.
„Dass du eines dieser Giermäuler, das sich bei uns eingeschlichen hat, zur Strecke gebracht hast, ist eine wirklich tolle Leistung. Siehst gar nicht aus wie eine Kriegerin“, sagte er lachend und rollte den Papierstreifen zusammen.
Kurz leckte er darüber, drehte die Zigarette noch einmal und steckte sie sich dann in den Mund.
„Trotz dieser Heldentat kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass mich deine Fehler in letzter Zeit sehr viel Geld gekostet haben“, fuhr er fort und steckte sich die Zigarette mit seinem Gasfeuerzeug an. „Du warst eine sehr gute Mitarbeiterin, aber ich muss dich leider entlassen.“
Nach einem kräftigen Zug blies er den Qualm seitlich aus dem Mund. Hatte sie ihn gerade richtig verstanden?
„Das geht nicht, ich brauche das Geld. Unser Bauernhof ist …“
„Katrina, es geht nicht mehr so weiter. Du hattest bereits eine zweite Chance. Ich kann es nicht mal mehr vor deinen Kollegen vertreten, dich weiter hier arbeiten zu lassen. Angefangen bei dem Mähdrescher von Bauer Hadebusch, einem unserer besten Kunden, bis hin zu dem Laster vom alten Bertram. Dann dein Absturz vom Zeppelin der Junkers. Der Junkers, Katrina! Erhol dich gut, melde dich vielleicht in einer der Fabriken und dann wirst du deinen Weg schon gehen“, meinte er und öffnete eine der vielen Schubladen seines Schreibtisches.
„Wir haben heute den Fünfzehnten, richtig?“, erkundigte Oswald sich dann.
Katrina nickte.
Er holte ein Bündel Scheine hervor, zog ein paar heraus und legte sie auf den Tisch und das Bündel zurück in die Schublade.
„300 Solid, bitte sehr“, erklärte er und schob Katrina das Geld an die vordere Tischkante.

Während sie alle möglichen Dinge aus ihrem Spind kramte und in den Rucksack packte, überschlug sie die Preise für das Tierfutter, das sie jeden Monat kaufen musste. Als sie zu keinem guten Ergebnis, sondern nur noch mehr Sorgen kam, hörte sie schnell wieder damit auf. Welche Rechnung konnte auch schon ein positives Ergebnis haben, wenn auf der Seite der Einnahmen eine dicke Null stand? Plötzlich spürte sie ihn wieder in ihrem Körper, diesen Druck. Noch war er klein, aber sie hatte die Befürchtung, dass er wachsen würde. In den nächsten Tagen würde sie …
„Aaaaauuuuuuuuu“, erklang es plötzlich lautstark hinter ihr, sodass sie vor Schreck laut aufschrie, sich umdrehte und mit der Hälfte ihres Körpers im Spind verschwand.
„Ich bin ein Werwolf und fresse dich auf! Aaaaaauuuuuu!“, rief Hendrik, der sofort aus vollem Halse loslachte und sich die Schenkel hielt. Bei ihm standen seine beiden Hilfsarbeiter. Der eine applaudierte ihr breit grinsend, und der andere musste sich am Türrahmen abstützen, um durch seinen Lachanfall nicht umzukippen. Dieser Mistkerl, dachte Katrina und schaute auf einen dicken Schraubenschlüssel, der auf dem Hocker neben ihrem Spind lag. Kurz überlegte sie, es nicht zu tun, aber was in ihrem Kopf passierte, gefiel ihr schon lange nicht mehr, und es tat gut, ihren Verstand ab und zu einfach zu ignorieren. Sie packte das kalte Eisen, machte zwei Schritte nach vorne und schlug Hendrik mit voller Wucht aufs rechte Jochbein. Er lachte plötzlich nicht mehr, sondern schrie und duckte sich nach hinten weg. Katrina ging weiter auf ihn zu und schlug von unten mit Schwung genau auf seine Nase, aus der sofort Blut schoss. Die anderen beiden flüchteten, während Hendrik rücklings zu Boden fiel und benommen in die Luft starrte. Er stammelte irgendwas, befühlte seine Nase und schaute sich blinzelnd seine blutigen Finger an. Dann hielt er die Hände nach oben und starrte Katrina ungläubig an. Sie warf den Schraubenschlüssel in die Ecke, griff ihren Rucksack und verließ die Umkleidekabine.
„Leg dich niemals mit einer Reichenlicht an“, sagte sie im Vorbeigehen zu Hendrik.
Hinter ihr öffneten sich die Flügeltüren zur Werkshalle, und mehrere Schritte erklangen. Scheinbar rannten einige Arbeiter zu Hendrik.
„Hey, bleib stehen! Was hast du getan?“, rief einer von ihnen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ Katrina das Gebäude. Dabei merkte sie, dass der Druck in ihrem Körper verschwunden war, was sie erleichterte, gleichzeitig aber auch beunruhigte.

Müde ging sie den üblichen Weg durch die Straßen Hofsteins in Richtung Stadttor. Ein Verkäufer fiel ihr auf, der vor seinem Geschäft den Kunden lautstark seine Waren anbot. Vielleicht konnte sie dort Arbeit finden. Die Bezahlung würde zwar schlechter sein als in einer der Werkstätten oder Fabriken, aber es war eine Möglichkeit. Viele gab es nicht hier in der Umgebung. Und alles, was sie zu Fuß nicht erreichen konnte, musste sie ausschließen. Es war ihr peinlich, aber sie konnte keinen Lastkraftwagen fahren, der sie an ihren Arbeitsplatz bringen könnte. Das Fahren hatte sie noch nie interessiert, immer nur das Reparieren, Ausbessern und Ausschlachten. Am Ende der Straße stach ihr ein Mann ins Auge. Er saß auf dem Boden an einer Hauswand und hatte einen kleinen Hut vor sich liegen.
Katrina fummelte von ihrem letzten Lohn einen Zehner aus der Tasche. Als sie vor ihm stehen blieb, schaute er sie an, lächelte und nickte kurz. „Guten Tag, junge Dame“, sagte er. Sein Bart war dunkel, genau wie seine Augen. Er saß in Lumpen auf einer fleckigen Decke und hatte einen löchrigen Rucksack neben sich liegen. Katrina versuchte zu lächeln, bückte sich und warf den Schein in seinen Hut.
„Das ist sehr großzügig, vielen Dank!“, bedankte er sich mit leuchtenden Augen. „Haben Sie einen schönen Tag!“, rief er Katrina hinterher, als sie weiterging.

Nachdem sie durch das riesige Stadttor gegangen war, blieb sie auf der Weggabelung stehen, auf der Theobald sie geküsst hatte. Statt nach rechts an der Mauer entlang nach Hause zu gehen, wählte sie den Weg geradeaus.

Die Stille in der Kirche war angenehm und beruhigend.
Ihr Körper und ihr Geist bekamen eine Pause von der Hektik und Aufregung der Welt da draußen. Der Welt voller Bestien und Monstern, die scheinbar weit weg waren, aber plötzlich ganz nah sein konnten. Wie bei jedem Besuch starrte sie auch jetzt das kleine, verschlissene Gesangsbuch vor sich an, schloss die Augen und faltete die Hände. Was sollte sie nun tun? Sie war alleine. Es gab niemanden, der ihr helfen konnte. Alle Pfeiler ihres bisherigen Lebens waren einfach so und innerhalb weniger Monate weggebrochen wie morsche Zaunbretter im Sturm, und sie konnte nichts dagegen tun. Plötzlich hörte sie Schritte, legte die Hände wieder in den Schoß und hob den Kopf.
Priester Rosenthal stand neben ihr und schaute sie mit einem milden Lächeln an. Sie hatte ihn hier schon oft gesehen, aber gesprochen hatten sie noch nie miteinander.
„Junge Dame, ich unterbreche Ihr Gebet nur ungern. Sie kommen bereits seit drei Wochen hier in meine Kirche, Ihr Glauben an das Licht ist bewundernswert!“
Auf einmal hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund. Waren es wirklich schon drei Wochen? Kam sie – abgesehen von den letzten zwei Tagen – bereits seit drei Wochen hierher, stets darauf hoffend, dass sich irgendetwas ändern würde? Stattdessen wird alles schlimmer, dachte sie und wandte den Blick von den dunklen Augen des Priesters, die im Zusammenspiel mit seinem rundlichen Gesicht warm und freundlich wirkten, ab. Katrina war es gewohnt, sich in Gegenwart Fremder unwohl zu fühlen, da sie immer darauf wartete, bohrende Fragen mit Lügen beantworten zu müssen. Bei Priester Rosenthal spürte sie das nicht. Er richtete seinen freundlichen Blick immer noch auf sie, aber sie merkte, dass er ihr auch damit kein Lächeln abringen konnte.
„Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie Kummer?“, flüsterte er und setzte sich neben sie auf die Kirchenbank, die ein leises Knarzen von sich gab.
Stumm und kaum sichtbar schüttelte sie den Kopf. Sie versuchte mehrmals, tief einzuatmen, aber es gelang ihr nicht.
„Vielleicht können wir uns in meinem Nebenzimmer unterhalten, und ich mache Ihnen einen Tee. Wie wäre das?“
Katrina musterte das Gesangsbuch, dann schaute sie zu dem Priester mit seinem gütigen Lächeln, bei dem ihr warm ums Herz wurde.
„Es ist sehr befreiend, wenn Sie mit jemandem über Ihre Probleme sprechen. Es nimmt den Druck von Ihren Schultern, glauben Sie mir!“ Der besagte Druck in ihr war kaum noch auszuhalten. Wieder übermannte sie eine Taubheit, und sie stand mehr neben sich, als dass sie wirklich in ihrer Haut steckte.
Vielleicht war er die Hilfe, die ihr der gütige Allvater zukommen ließ? Hatte sie eine andere Wahl?
„Gut, okay“, flüsterte sie.
Ihre Schritte hallten dumpf durch die Bankreihen, als sie gemeinsam in Richtung Altar gingen, hinter dem sich eine Tür befand, durch die man in eine kleine Küche kam. Dort hing eine schummrige Deckenlampe, die ihr Licht auf alte, abgenutzte Holzmöbel warf.
„Setzen Sie sich bitte“, forderte der Priester sie auf und zeigte auf einen der freien Stühle an dem kleinen Tisch, auf dem eine dicke Kerze stand, die schon zur Hälfte heruntergebrannt war. Der Priester füllte Wasser in einen kleinen Kupferkessel und stellte ihn auf die Kochplatte neben die Pfanne. In dieser lagen Reste von Bratkartoffeln, die einen heimeligen Geruch verströmten. Katrina erinnerte sich an frühere Zeiten, als ihre Mutter noch richtiges Essen gekocht hatte. Als ihr Vater noch da war und Oma und sie vor dem Essen gemeinsam das Gebet sprachen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Priester und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
Seine Stimme war freundlich und vertrauensvoll, trotzdem konnte sich Katrina nicht überwinden. Sie schwieg.
„Mein Beruf verbietet es mir, mit anderen über das zu sprechen, was Sie mir anvertrauen, also keine Bange!“, versicherte er ihr mit einem milden Lächeln und fasste sie kurz an den Händen, die sie vor sich im Schoß gefaltet hatte.
Katrina biss die Zähne zusammen, atmete schneller und merkte, wie sich ihr Nacken verkrampfte. Am liebsten hätte sie ihren Kopf durch die Fensterscheibe geschlagen, vor der sie saß, aber es war zu spät. Sie ließ einfach los und verlor das letzte bisschen Kontrolle, das sie noch über sich hatte. Noch im letzten Winkel der Kirche war ihr Schrei zu hören. Die Luft entwich ihrer Lunge, bis ihre Stimme brach und in einem stöhnenden Röcheln endete. Ich will nur noch weg von hier, dachte sie. Raus aus allem. Raus aus der Kirche, aus der Stadt. Wegrennen, einfach irgendwohin. Nur weg von all dem Druck und all den Menschen um mich herum, die an mir zerren.
Der Priester versuchte, sie zu beruhigen, sprang auf und rieb ihr den Rücken. Katrina konnte seine tröstenden Worte nicht verstehen, aber der Klang seiner Stimme beruhigte sie. Er setzte sich wieder zu ihr an den Tisch, und sie begann, dem Priester ihr Leid zu erzählen und damit ihre Mutter zu verraten, wobei sie zwischendrin immer wieder nach Atem rang. Stumm lauschte er ihr, nickte und stieß an den Stellen, die ihn in Erstaunen versetzten, die Luft aus. Als sie fertig war, musterte sie den nachdenklichen Priester. Er legte eine Hand auf den Holztisch, um mit den Fingernägeln dessen Maserung nachzufahren, bevor er sich zu Katrina beugte und flüsterte: „Junge Dame. Es tut mir sehr leid, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll!“
Plötzlich hatte Katrina eine Idee. Sie kam ihr vor wie das Glimmen eines winzigen Glühwürmchens in tiefschwarzer Nacht, das sie fangen musste.
„Priester … Ich weiß, was Sie tun können.“

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